

Über Stummfilmmusik
Die Aufgabe, heute für Filme von gestern Musik zu machen |
1895 wird gemeinhin als das Geburtsjahr des Kinos angesehen.
Welch einen weiten Weg hat der Film in dieser kurzen Zeit zurückgelegt von den ersten, nur wenige Sekunden langen Streifen der Lumieres, Melies´ und Skladanowskys, in denen z.B. das Verlassen der Angestellten einer Fabrik in einer – natürlich starren – Einstellung gezeigt wurde bis zu der „befreiten“ fliegenden Kamera eines Abel Gance und Friedrich Wilhelm Murnau oder den expressiven bis avantgardistischen Montagetechniken eines Carl Theodor Dreyer, Sergej Eisenstein oder Walter Ruttmann !
Welch ein weiter Weg gleichfalls für ein Medium, das den Film von Anfang an begleitet hat, die Musik. Stummfilmmusik seit 1895: ein altes Harmonium, ein Pianist mit Stehgeiger oder Geräuschemacher im Duett, das Salonorchester mit reduzierten Arrangements der großen spätromantischen Symphonien bis hin zum mehr als 120 Personen starken Orchester gibt Auskunft über die Bandbreite, Produktionsmechanismen, Geschmacksfragen, Stilkunde, kommerzielle Verwendung, Risikoabwägung und Experimentierfreude. |
Vor allem die film-musik-dramaturgische Frage ist dabei für den Stummfilmusiker zu beleuchten: Hintergrundmusik gegen Projektorenlärm und Angst in der Dunkelheit; adäquate Geräuschkulisse zur Verlebendigung einer stummen visuellen Revolution; experimentelle Versuche von sekundengenauer Passung; provokant gestaltete Kontrapunktik; Einfangen und Wiedergeben von Atmosphäre, Emotion und Stimmung... Die großen Ereignisse des Stummfilmkinos entstanden früher wie heute aus der vereinten Wirkung beider Zeitkünste, aus einer magischen Steigerung von filmischer Erzählkunst und musikalischer Poesie, dramatischer Spannung und emotionalem Ton. |
Die Ansprüche an die musikalische Vermittlung der stummen Bildwerke sind im Zeichen der kulturellen Entwicklung durch die Jahrzehnte gewachsen und werden im gleichen Kontext leider auch nicht selten verraten durch falschen Ehrgeiz von Musikern, die z.B. ihre avantgardistischen Prinzipien am Film exerzieren, um klarzumachen, dass sie nur ja keine funktionale Musik schreiben; von Musikern, die aus Unfachlichkeit oder mangelndem Respekt gegenüber dem Regisseur und seinem Werk ihre privaten ungewandelten musikalischen Prinzipien neben dem Film her oder gegen ihn laufen lassen oder gar „hinter dem Bild her improvisierend“ dem Publikum die vermeintlich wertvolle Gültigkeit ihrer Spontanimpression als hohe Kunst glauben machen wollen. Hauptkriterium für eine gelungene Stummfilmvertonung bleibt nach wie vor S. M. Eisensteins Forderung, "dass in einem organischen Kunstwerk ein einheitliches Strukturgesetz alle Merkmale dieses Werkes durchdringt und dass auch die Musik von den gleichen grundlegenden Strukturprinzipien gesteuert werden muss". In beinahe sieben Jahrzehnten hat der Tonfilm die Seh- und Hörgewohnheiten des Publikums verändert. Er differenzierte die audiovisuellen Bezüge und bereicherte ihre klanglichen Möglichkeiten. Deshalb entfernen sich neuere Vertonungen von den historischen Vorbildern nicht nur durch die erweiterte Basis des musikalischen Materials, sondern auch durch innovative Dramaturgien, wie sie der Einsatz elektronischer Instrumente oder stilistischer Idiome (Jazz, Minimal Music u. a.) nahe legt. Auch innovative musikalische Umsetzungen können überzeugen und veranschaulichen die Bemerkung Th. W. Adornos, dass echte Traditionspflege sich nicht in der Konservierung der Vergangenheit erfüllt. |